Alien
Ich drücke den X-Button auf meinem Playstation-Controller. Daraufhin öffnet sich in der Decke eine Schleuse, und heraus kommt: Das Alien. Nicht irgendein Alien, sondern das Alien aus Ridley Scott’s Alien - Das unheimliche Wesen aus einer anderen Welt. Ich meide Horrorspiele, aber ein Freund von mir hat gesagt, dass die künstliche Intelligenz von Alien:Isolation mal ganz was anderes wäre. Das Alien in Alien:Isolation wird nicht von einer einzigen KI gesteuert, sondern von zwei: Die erste ist blind und die zweite ist taub. Der Xenomoprh ist damit gleich zweilerlei smart.
Während die blinde KI horcht, hält die taube KI die Augen auf und sucht mich. Wenn das Alien mich sieht, ich aber still bleibe, ist das sensorische Pensum des Aliens nur zu 50% befüllt, und nichts passiert. Wenn das Alien mich hört, ich mich aber hinter einer Kiste verstecke, ist das sensorische Pensum des Aliens nur zu 50% befüllt, und es passiert wieder nichts. Der entscheidende 0.1%, der dem Alien eine Mordsgewissenheit verleiht und in meine Richtung losjagen lässt, wird vom Zufall berechnet. Der Xenomorph ist damit im wahrsten Sinne des Wortes unberechenbar.
Alien:Isolation erschien im Jahr 2014 und wurde entwickelt vom Entwicklerstudio Creative Assembly. Der Kunstgriff der doppelten Alien-Intelligenz verleiht dem Spiel eine ganz eigene, diskursive Note. Mitunter kann es passieren, dass das Alien in meine Richtung springt, kurz vor meiner Nase jedoch stehenbleibt und horcht, weil die Alien-KI gerade ein anderes Signal reinbekommen hat. Hat es mich gesehen? Hat es mich gehört? Meine Nemesis und ich stehen eine Handbreit voneinander entfernt, und doch lebe ich.
Ein Jahr darauf, im Juni 2015, entwickelte ein Programmierer namens Seth Bling ein neuronales Netzwerk namens MarI/O. Das neuronale Netzwerk lernte den optimalen Speedrun für Super Mario World. Basierend auf der Neuroevolution von Augmentierungstopologien, erzeugte MarI/O neuronale Netze mit Hilfe genetischer Algorithmen. Dabei wusste MarI/O nur das Level-Layout und die Positionen der Hindernisse. Das Ziel bestand darin, die Fitnessfunktion so weit wie möglich auf die Zielgerade hin zu transportieren - und zwar schnellstmöglich. Seth Bling ließ das Programm laufen, und nach 34 Generationen, die insgesamt 24 Stunden dauerten, beendete MarI/O das erste Level Level, indem es durch das gesamte Level sprang und allen Power-Ups und Gegnern auswich. Nach 17 Tagen errechnete MarI/O den optimalen Speedrun.
Der Einfluss von Programmierern interaktiver Unterhaltungssoftware auf den Fortschritt von künstlicher Intelligenz ist enorm. Haben Sie sich einmal gefragt, wie das Navigationsgerät Ihres PKWs in der Lage ist, den kürzesten Weg zwischen Start und Ziel zu finden? In 90% der Fälle lautet die Antwort A*-Heuristik, und sie berechnete über Jahrzehnte nahezu alle NPCs, die in Videospielen auftauchten und den kürzesten Weg zwischen Spawn-Area und Ziel suchten. Viele unserer heutigen Roboter, seien es Staubsauger-Bots, Satelliten oder Militärdrohnen nutzen Behaviour-Trees, um je nach Situation durch selektives Aktivieren und Deaktivieren von Verhaltensweisen den korrekten Modus abzuspielen. Kommt Ihnen das bekannt vor? Also mir kommt das bekannt vor.
Künstliche Intelligenz erreichte in den Jahren 2023 und 2024 ein Niveau, das einem die Kinnlade runterklappen ließ. Künstliche Intelligenz spricht in ganzen Sätzen sinnvolles und logisch nachvollziehbares Weltwissen, und das mit beeindruckender Adaptivität. Vergleicht man die aktuelle Rafinesse mit den Ketchupbots der frühen 2000er Jahre, und erst Recht mit den Computerklötzen der 1940er Jahre, könnte man meinen, das Alien sei endgültig angekommen.
Die meisten Menschen könnten dies für eine Rache der Nerds halten. Als hätte man damals in der Schule ein bisschen den stillen Jungen im Klassenzimmer gemobbt, der sich für C++ interessiert, und 20 Jahre später macht der stille Junge einen Doktor in Informatik - und Sie haben jetzt ein Problem. Sie brauchen jetzt “Intellektuelle auf Bühnen”, um zu erfahren, dass KI unser Game total changen wird. Ich verrate Ihnen, was neuronale Netzwerke eigentlich sind: Software. Sie kommen in der Form von Computerprogrammen daher und funktionieren auch genauso. Weder neuronale Netzwerke noch alles andere, was mit KI zu tun hat, ist “lebendig”. Die Frage nach den “Gefühlen” einer KI ist das Symptom einer psychologischen Projektion auf der Suche nach sich selbst.
Unter GameDevs gibt es diese Epiphanie: Wenn der Dev ein Game entwickelt, und für das Game eine KI entwickelt, die gegen den Dev spielt, und wenn der Dev sein eigenes Game spielt und von seiner selbst entwickelten KI in seinem selbst entwickelten Game besiegt wird, dann ist das etwas ganz besonderes. Während meines kurzen Aufenthaltes in der GameDev-Branche erlebte ich einen Technik-Optimismus, der branchenübergreifend einmalig ist. Man läuft auf dem Weg zur Kantine an einer Gruppe Senior-Devs vorbei, die GLaDOS zitieren und mit Nerf-Guns durch die Gegend ballern. Im Soundstudio werden Goblin-Geräusche aufgenommen, indem mit vollem Mund in ein Mikrofon gegurgelt wird. Die GameDev-Branche weiß, dass alles nur ein Spiel ist.
Klar kann man argumentieren, dass “echte” KI eine echt ernste Sache ist. Doch der Technik-Optimismus unter Spiele-Entwicklern fliegt jenseits der Unbekümmertheit: Er ermöglicht Zustände, in denen frei und unvoreingenommen Szenarien abstrahiert, debugged und getestet werden können. Greenlighting nennt man das. Die Deutsche Mentalität ist auf Greenlighting gar nicht programmiert. Die Deutsche Mentalität ist auf Redlighting programmiert. Lieber alles schlecht finden, bevor man sich noch dafür begeistern muss.
In quotenoptimierten Medienformaten erlebe ich, wie Komponisten eine KI-generierte Beethoven-Komposition auf emotionale Tiefe untersuchen. Außer einem “Hmm, das berührt mich jetzt nicht so ganz” kommt da nichts. Zur gleichen Zeit prognostizieren Transhumanisten wie Nick Bostrom und Max More die Verselbstständigung exponentiell steigender Intelligenz hin zur entfesselten Superintelligenz, zur entgültigen Befreiung vom menschlichen Fleischgefängniss, hinein in die Verschmelzung kosmischer Transzendenz, zur absoluten, höchsten, vollkommensten Lebensform unseres Universums. Haben Sie bei solchen Erörterungen auch ein flaues Gefühl im Magen? Also ich schon.
Spiele-Entwickler haben gezeigt, zu welch extraterrestrischen Leistungen KI imstande ist, wenn man nur bereit ist, unkonventionelle Lösungen zu wagen. Und Spiele-Entwickler hören nicht auf, unkonventionelle Lösungen zu wagen: John Carmack, Mitbegründer von id-Software, Mit-Erfinder des First-Person-Shooters, Erfinder der Grafiktreiber für Oculus Rift, Chief Technological Officer von Oculus Rift, Gründer und Lead Engineer von Armadillo Aerospace und Rächer der Nerds, interessiert sich mittlerweile für KI. Seit unbestimmter Zeit, aber mindestens seit 2020, arbeitet Carmack bei seinem 1-Mann-Startup namens Keen Technologies an der Verwirklichung der Starken KI, also der AGI (Artificial General Intelligence - wir werden darauf zu sprechen kommen). Carmack sagte in Interviews, er habe keine praktischen Anwendungsfälle im Sinn, er tüftele lieber wie ein verrückter Wissenschaftler an seinem Frankenstein, und was danach kommt, werde er dann sehen.
Im März 2024 launchte das Tech-Unternehmen Cognition Labs mit “Devin AI” den ersten künstlichen Software-Engineer. Devin ist ein Large Language Model, das Software entwickelt. Es erstellt Software-Projekte, erzeugt Programmcode, testet die Software, platziert sie auf den Servern der Kunden, und das vollautomatisch. Humanoide Programmierer befürchten, dass Devin ihre Jobs killen wird. Die bisherige Fördersumme für Devin AI und Cognition Labs liegt bei circa 22 Millionen Dollar.
Während meiner Zeit als IT-Berater hörte ich das erste Mal von so genannten 100-Chinesen-Problemen. Ein 100-Chinesen-Problem ist ein Problem, das dadurch gelöst wird, in dem man 100 Chinesen auf das Problem wirft. Die Bezeichnung ist durchaus rassistisch; heutzutage spricht man eher vom Brute-Forcing; von roher Energie, die zur Zerschlagung eines Problems mobilisiert wird. Informatiker schauen oft mit einer gewissen Geringschätzung auf Kollegen, die bruteforcen. In fast allen Fällen sind Abstraktion, Debugging, Testing und Nerf Guns die intelligenteren Lösungsansätze.
Trotzdem hält sich unter Entrepreneuren die Vorstellung, dass mit einem richtigen Grindset unsere Zukunft schon noch besser wird. 60 Überstunden pro Woche, plus 40 reguläre Stunden wie vertraglich vereinbart - unter Software-Entwicklern der großen IT-Häuser mittlerweile Standard; und ich gestehe mit einer gewissen Trauer in meinem Herzen, dass dies der bevorzugte Weg in eine sexuell attraktive Zukunft sein wird.
Wenn selbst John Carmack, einer der respektiertesten Software-Entwickler der Welt, nicht weiß, was auf uns zukommt, können wir uns entspannt zurücklehnen. Niemand kennt das Ende vom KI-Spiel, und vielleicht stehen wir mit dem KI-Spiel nur an der Schwelle einer extrem furchteinflößenden und unglaublich abgefahrenen Revolution. Bis es so weit ist, werde ich auf diesem Blog alles über Algorithmen, Hardware, Künstlicher Intelligenz und Software-Architektur veröffentlichen, was ich während meines mittlerweile 10-jährigen Aufenthaltes in der IT-Branche gelernt habe.